Mittwoch, 14. März 2012

Stellvertretend für alle

50 Minuten sind wohl vergangen, seit wir vorne Platz genommen hatten, auf Stühlen und auf Sofas. Alle hatten sich vorgestellt. Eine nach dem anderen. Fragen beantwortet, reihum.
Nun strömt das bunte Kandidaten-Potpourri in die Halle, zu den anderen, und harrt der Dinge. Schlangen bilden sich an den Urnen, Stimmzettel werden gefaltet versenkt, im Hintergrund läuft ein lustiges Musikstück.

Ich setze mich zu Hagen. Er hatte mich vor der Vorstellungsrunde nochmal getuned, mich dazu gebracht, meine Ideen über meine Vorstellung dreimal laut aufzusagen. Das übliche Lampenfieber ging daraufhin fast gegen Null. Wir waren vor 13 Jahren Kollegen, und hatten uns jüngst bei den Piraten wieder getroffen. Die Vertrautheit tut mir gut. Einzelgängerin zu sein, ist nicht nur schön.

Nun schauen wir gemeinsam twitter. Mein Kopf ist leer, so viele neue Eindrücke. Vor 350 Menschen hatte ich noch nie geredet. Jetzt sitze ich einfach da. Als das Ergebnis verkündet wird, bekomme ich es nichtmal mit. Erst als Hagen mir auf die Schulter klopft, von allen Seiten Blicke auf mir landen und Hände entgegen gestreckt werden, ziehe ich daraus den Schluss, dass ich gewählt bin. Ich werde umarmt und erwidere freundschaftliche Gesten. Das Gefühl der Erkenntnis folgt dem Geschehen allerdings nicht unmittelbar. Als ich die Treppe hinauf auf die Bühne steige, ahne ich nur, was soeben passiert ist. Die Mehrheit der akkreditierten Mitglieder hat mich zur Stellvertretenden Vorsitzenden der Piratenpartei Deutschland Berlin gewählt. Ich nehme die Wahl an.

An die nächsten 10 Minuten kann ich mich nicht mehr erinnern. Irgendwer macht ein Foto von mir. Ich wundere mich. Die gesamte Presse ist nach dem Presseauflauf um den neu gewählten Vorsitzenden von der Bildfläche verschwunden. Keiner mehr da. Daraus schließe ich, dass die Rolle, in die ich gerade gewählt wurde, für die Öffentlichkeit unwesentlich ist. Diese Erkenntnis erstaunt mich. Ich höre die Presse stets davon reden, dass die Piraten zu wenig Frauen hätten, dass Frauen unterrepräsentiert sind, und dass dies als Mangel interpretiert wird. Hier ist nun eine Frau in die Spitze der Partei gewählt worden, aber die Einzigen, die es nicht interessiert, ist die Presse. Die Presse will die Frauen gar nicht an der Spitze sehen? Es stellt sich das erste Mal das Gefühl von manipulativer Berichterstattung ein.

In der folgenden Woche formieren wir uns als Vorstand, mindestens 40% weiblich sozialisiert, mit Baby. Die Presse interessiert es nicht. Sie stürzen sich auf den Vorsitzenden, als ob er der Führer der Partei sei, und dieser spielt seine Rolle vortrefflich. Mich befremdet das. Als wir zu dritt beim Pressefrühstück auftreten, zu dem wir geladen hatten, wird es klarer.
Einer der Reporter wirkt deutlich genervt, wenn ein weiblich sozialisierter Vorstandsvertreter ungefragt das Wort erhebt. Ungefragt deshalb, weil niemand fragt. Auch die Berliner Journalistin wird gegen seine Dominanz der Gesprächsführung kaum zu Wort kommen. Ich beobachte das Ganze still. Ziehe meine Schlüsse. Was hier abgeht, ist eine Posse.

Dinge werden sich ändern. Denn dazu sind wir angetreten, liebe Öffentlichkeit. Mit uns dürft Ihr in Zukunft rechnen. Und zwar zu mehr als 40%.

P.S.: Die Antwort von hase, unserem ersten Vorsitzenden, die er am gleichen Tag noch postete, als dieser Artikel erschien, hat mich sehr gefreut :)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank, dass du diesen Text kommentieren möchtest.

Bitte denk dran, dich fair und gewaltfrei auszudrücken. Ich behalte mir vor, Kommentare mit Passagen, in denen es darum geht, andere zu verletzen, zurückhalten und dem Autor Gelegenheit zu geben, umzuformulieren.

Aus aktuellem Grund: auch Kommentare, in denen namentliche Unterstellungen vorkommen, Schuldzuweisungen an Personen verteilt werden, schalte ich hier nicht frei. Bedauerlicherweise kann ich betreffende Textpassagen vor der Freischaltung nicht schwärzen, sondern müsste den gesamten Text erstmal freigeben. Deshalb lasse ich es. Wenn ein Text nicht freigeschaltet wird, dann aus einem der oben genannten Gründe. Zum Schutz der darin angegriffenen Personen.